Ruestzeug des angehenden Konferenzdolmetschers

Das folgende ist ein Ausschnitt aus dem Buch Vom Übersetzen zum Simultandolmetschen von Jürgen Stähle : p365-367

Rüstzeug

Es ist nicht einfach, eine klare Abgrenzung vorzunehmen zwischen den soeben geschilderten Persönlichkeitsmerkmalen eines angehenden Konferenzdolmetschers und dem Rüstzeug, über das er verfügen bzw. das er so schnell wie möglich erwerben sollte. Zu den erstgenannten wollen wir die charakterlichen Merkmale und die erworbenen Einstellungen und Verhaltensweisen rechnen, zu den letzteren dagegen in erster Linie das Wissen und die Kompetenzen und Fertigkeiten, über die der junge Mensch verfügt. An der Schnittstelle von persönlichen Eigenschaften und erworbenen Fähigkeiten sehe ich eine Anforderung, die sicherlich der junge Kandidat noch nicht unbedingt erfüllen muss, die allerdings im späteren Berufsleben für den freiberuflich tätigen Simultandolmetscher absolut unerlässlich ist: Ich meine ein Mindestmaß an unternehmerischem Denken und Verhalten kann auch in anderen Berufen, die freiberuflich oder Kleinunternehmer ausgeübt werden, kann niemand darauf hoffen, Grundwissen schon während der Ausbildung mit ein gewisses zubekommen. Aber Rechtsanwälte, Architekten, ja sogar Ärzte sind heute immer häufiger, zumindest in den ersten Jahren, bei älteren Kollegen fest oder quasi fest angestellt und haben dort die Möglichkeit, auch die geschäftlichen Aspekte des Berufs kennen-zulernen. Die freiberuflichen Konferenzdolmetscher dagegen stellten auch diesbezüglich bis in die jüngste Vergangenheit immer eine Ausnahme dar. Nicht nur war es unüblich und schlicht unmög-lich, sich von Kollegen in fester Anstellung beschäftigen zu lassen, zumal die Strukturen des Markts und die Beschäftigungsmuster dies nicht zugelassen hätten. Auch galt es für junge Kollegen immer als verpönt, sich selbst um eigene Kunden zu kümmern, da es vor allem galt, nicht den etablierten Beratenden Dolmetschern ins Gehege zu kommen. Ja, der „gute” Nachwuchsdolmetscher, der Aussichten hatte, eines Tages die Weihen der Älteren zu er-halten, war derjenige, der sich auf die Engagements beschränkte, die er von seinen eingeführten Kollegen und von den internatio-nalen Organisationen angeboten bekam. So haben es sehr viele freie Konferenzdolmetscher nie ge-lernt, ihre eigene Dienstleistung am Markt zu verkaufen, um Konditionen zu verhandeln, Verständnis für die Sichtweise und die Argumente ihrer Vertragspartner zu entwickeln – kurz, sich in einem Marktumfeld marktgerecht zu verhalten. Wie bereits dargelegt, hat dieser Markt und haben sich die Arbeitsbedingungen für die an ihm tätigen Dienstleister allerdings inzwi-schen so weitgehend verändert, dass es den umworbenen Einzelgänger, dem seine Engagements auf dem Silbertablett serviert und der gelegentlich aus seinem Elfenbeinturm in die raue Wirldichkeit herabsteigt, in einer weiteren Generation wo-möglich nicht mehr geben wird. Ein gewisses Mindestmaß aus geschäftlichem Verstand und Einfühlungsvermögen sollte daher zum Rüstzeug jedes freien Konferenzdolmetschers gehören – ob er es nun dazu einsetzt, selbst in dem ihm wünschenswert er-scheinenden Maß unternehmerisch tätig zu werden, oder ob es ihm nur hilft zu verstehen, wie ein Dienstleistungsmarkt „tickt” und wie seine Kollegen mit diesem Markt im Interesse aller Be_ teiligten umgehen.

Kommen wir zum nächsten Fach im Rucksack unseres jungen Kollegen. Es ist angeklungen, dass Konferenzdolmetscher und besonders die mit einer extremen Vielfalt der Themen und Wissensgebiete konfrontierten freien Simultandolmetscher zwar heutzutage nicht mehr wie einst Humboldt das Wissen ihrer Zeit in sich vereinigen können, dass es ihnen aber doch sehr hilft, wenn sie regelrechte wandelnde Enzyklopädien sind. Dabei ist kein junger Mensch ein Universalgenie, und im Grunde kritisie-ren wir ja sogar Bildungssysteme, die ein übertriebenes Eintrich-tern von unreflektiertem Wissen zum höchsten Ziel erheben. Junge Menschen sollen nicht nach dem Motto von „Stadt – Land – Fluss” oder im Hinblick auf das Lösen von Kreuzworträtseln lernen, sondern zum kritischen Differenzieren erzogen werden und ihre Bildungsinhalte einzuordnen lernen. Aber gerade ein derartiger Ansatz hilft ihnen ja auch dabei, ein Gefühl für die eigenen Lernmuster zu entwickeln, abzuwä-gen, welche Inhalte sie sich nur schwer, welche dagegen leichter aneignen können, wo ihre Wissenslücken liegen – und natürlich, ob sie überhaupt den mehrfach angesprochenen Wissensdurst besitzen, ob sie Freude am ständigen Lernen und Entdecken haben. Wenn junge Menschen, die sich für unseren Beruf inter-essieren, im Alter von 17 oder 18 Jahren, wie ich es bei Praktikanten mehrfach erlebt habe, nicht einmal eine Tageszeitung, ge-schweige denn eine zweite in einer anderen Sprache lesen, wenn sie auch um Sachbücher meistens einen großen Bogen machen, dann ist dies, wie man in der Medizin sagt, ein sehr ungünstiger Prognosefaktor. Eine überdurchschnittliche Allgemeinbildung ist und bleibt eine der wichtigsten Voraussetzungen für unseren Beruf, ergänzt durch die Fähigkeit und das Bedürfnis, ein Leben lang sein Wissen, seinen Horizont zu erweitern.